Historie Villa Raab
Die Geschichte der Stadt Alsfeld ist seit dem Ende des 19. Jahrhunderts mit der Geschichte der Denkmalpflege in Hessen eng verbunden. Auch die erste hessische Baugestaltungs- und Denkmalsschutzsatzung, erlassen in Alsfeld 1902, sowie die vielen Beispiele der vorhandenen beachtlichen Einzeldenkmäler sind eine Besonderheit. Zahlreiche Gebäude aus allen Epochen der Baugeschichte legen hierüber Zeugnis ab. Viele Gebäude aus der Gründerzeit und des Jugendstils sind ebenso erhalten, wie die historische Innenstadt mit ihren Gebäuden aus dem 14ten bis 19ten Jahrhundert. So präsentiert sich auch die ehemalige „Villa Raab“ als ein herausragendes Stadtdenkmal, das nicht zuletzt wegen seiner Qualität und architektonischen Gestaltung eine Besonderheit darstellt.
Durch ihre französische Palais-Architektur, als typische Gründerzeitvilla aus dem Jahr 1904 im Jugendstil mit barockisierenden Gestaltungselementen, war die Villa das repräsentative Hauptgebäude als „Fabrikantenvilla“ der ehemaligen Pfeifenfabrik Ludwig Raab.
Als klassisches Beispiel stellt die Villa die ganze Pracht der Epoche des Neubarock zur Schau, mit starken und damals sehr modernen Elementen des Jugendstils. Doch keinesfalls ist nach 1900 eine Abkühlung der Formen, eine Abnahme der Plastizität am Gebäude zu erkennen, wie sie doch allgemein im Zeitalter, des seit 1895 in ganz Europa verbreiteten Jugendstils, zu beobachten ist. Im Gegenteil zeigt die Umsetzung des Neubarock in der Fassadenarchitektur der Villa, der in seiner Spätphase koexistierte und ihn teilweise sogar beeinflussende Jugendstil, eine durchaus starke Wirkung.
Direkt an dem ehemaligen Mühlgraben und der Krebsbach gelegen, bildet die ehemalige Gesamtanlage mit Villa sowie Fabrikations- und Nebengebäuden als Ensemble eine noch in Teilen erhaltene bauliche Einheit der Alsfelder Industriegeschichte des 19. Jahrhunderts. Die Villa war ursprünglich mit einem englischen Landschaftspark umgeben. Richtung Süden grenzte ein Laubengang die weiteren Freiflächen und den Gemüsegarten ab. Auf der Ostseite wurde das Grundstück durch den baulichen Riegel der ehemaligen Fabrikationshalle abgegrenzt. Sie bildete wiederum das Herzstück der Pfeifenfabrik Ludwig Raab.
Über die Entstehung dieses Unternehmens ist nur das Gründungsjahr 1869 bekannt. Im Dezember 1873 wird Johann Ludwig Raab mit der Berufsbezeichnung „Horndreher“ offiziell als Bürger der Stadt Alsfeld aufgenommen. 1894 erwirbt sein Sohn Ludwig Raab das Mühlengelände an der Altenburger Straße und verlagert im Jahr darauf einen Teil der in der Untergasse bis zum Grabbrunnen in Alsfeld ansässigen Produktion dorthin, um die Wasserkraft des Mühlgrabens für seine Produktion zu verwenden. Die weiteren Wohnhäuser und Ökonomiegebäude lässt er zu Wohnungen für 12 Arbeiterfamilien einrichten. Nebenbei erhielt jede Familie die Möglichkeit einen eigenen, kleinen Garten zu bewirtschaften. Diese sehr fortschrittliche Unternehmensführung zahlte sich für Ludwig Raab aus, und der wirtschaftliche Aufstieg des Unternehmens sollte auch nach außen hin durch den Bau einer repräsentativen Villa zum Ausdruck gebracht werden.
Das kaisertreue, zu großem Vermögen gelangte Bürgertum legte besonderen Wert auf eine prunkvolle Repräsentation. Die prächtige Villa des Fabrikanten Ludwig Raab, am 06.12.1902 geplant und entworfen durch den Architekten Otto Leppin aus Iserlohn (1850-1937), demonstrierte auf eindrucksvolle Weise den wirtschaftlichen Erfolg der ehemaligen Firma Ludwig Raab. Der beauftragte Architekt Otto Leppin entfaltete einen architektonischen Aufwand, der etwas völlig Neues in Alsfeld darstellte. Mit dem beherrschenden, vorderen Laternen bekrönten Eckturm zur Altenburger Straße, den Erkern und Altanen, Balkonen sowie dem mit Fialen besetzten Schildgiebel am Risalit wurde dies eindrucksvoll gestalterisch umgesetzt. Eine Besonderheit stellen die Altanen dar, als eine offene, auf Stützen oder Mauern ruhende Plattform, vom Obergeschoss des Gebäudes zugängliche, modern genutzte Dachterrasse.
Die vielen erhaltenen Innen- und Außendetails machen die Qualität des unter Denkmalschutz stehenden Objektes aus. Besonders zu erwähnen sind die prunkvollen und reichlich mit Zierelementen und Einfassungen versehenen Außenfassaden, die Jugendstilverglasungen mit Ihren Bleieinfassungen, die teilweise noch erhalten sind. Im Gebäude befinden sich weiterhin und durchgängig die bauzeitlichen Türen und Türfutter, als Rahmen- und Füllungskonstruktionen, teilweise noch mit den originalen Beschlägen und Verglasungen. Eindrucksvoll ist auch das großzügige Treppenhaus mit seinen Jugendstilportalen, die die jeweiligen Geschosszugänge abschließen. Auch die erhaltenen Stuckgesimse und Friese in den Haupträumen im Erdgeschoss und Obergeschoss stellen eine Besonderheit dar, genauso wie die noch vorhandenen bauzeitlichen Fliesenbeläge im Gebäude.
Hierbei handelt sich um hochwertige und wertvolle historische Fliesenbeläge als Steinzeug, Fliesen mit geprägter Fliesenoberfläche (Riffelplatten) aus dem Haus Villeroy und Boch. Sie sind im Erdgeschoss in den Fluren und auch als Treppenhaus-Fliese noch, bis auf kleinere Fehlstellen, komplett erhalten. Die Villa verfügt insgesamt über 19 Zimmer und Nebenräume, 8 Kellerräume, 2 nichtunterkellerte Bereiche, zwei Terrassenbalkone und zwei Balkone als Altanen, verteilt auf zwei Vollgeschosse, ein Mansardgeschoss und ein Kellergeschoss, welches erhaben mit einer hohen Sockelbasis aus dem Gelände tritt. Die Freiterrasse neben dem Haupteingang besitzt einen Terrazzobodenbelag mit Mosaikeinfassungen. Komplett erhalten sind auch die Grundstückseinfriedungen mit Ihren schmiedeeisernen in Jugendstilformen gehaltenen Zäunen, Toren und Geländer.
Die besondere Architektur der ehemaligen „Villa Raab“ beeindruckt bis heute. Der weitere Verfall kann nur durch eine umfassende und notwendige Sanierung aufgehalten werden. Eine Bewahrung dieses wichtigen Kulturdenkmals und seiner historischen Bausubstanz ist ein wichtiger Beitrag zur Erhaltung der kulturellen Identität Alsfelds als europäische Modelstadt für Denkmalpflege, damit nach erfolgter Sanierung Vergangenheit wieder Zukunft hat.